Architektur der Schichtung
Als Vermittler für Immobilienkredite haben wir täglich mit Architektur zu tun, ohne sie als solche wahrzunehmen. Um Ihnen die bestmöglichen Finanzierungen bieten zu können, denken wir täglich über Nutzflächen, Nettokaltmieten und Altlasten nach. Dabei verlieren wir die gesellschaftlichen und ästhetischen Aspekte des Bauens leicht aus den Augen. In dieser Kolumne wollen wir einen anderen Blick auf unsere Arbeit werfen.
Am Anfang von Bessons Das fünfte Element gibt es eine Szene, in der sich Milla Jovovich von einem Hochhaus stürzt, um ihre Verfolger abzuschütteln. Schnell saust sie abwärts vorbei an typischen New Yorker Fassaden, die Elemente der Cast-Iron-Architektur, des Art décos und Internationalen Stils aufgreifen. In Bessons bunter Zukunftsvision sind die Architekturen der Vergangenheit wie archäologische Schichten übereinandergestapelt. Deshalb gleicht Jovovichs Sturz in den Abgrund fast einer Zeitreise in das lebendige Gedächtnis der Stadt.
Ich musste unlängst an diesen Film aus den späten Neunzigerjahren denken, da in der Nachbarschaft unseres Büros die Arbeiten an einem Ensemble abgeschlossen wurden, das einen ganz ähnlichen – wenn auch dezenteren – Vibe versprüht. In der Konstanzer Straße unweit des Kudamms wurde ein Mietshaus aus den Jahren des Wiederaufbaus um zwei Etagen ergänzt. Diese Aufstockung stellt nach dem Anbau eines schmalen Wohnturms in den späten Achtzigern die zweite umfassende Erweiterung des Gebäudes dar. Somit versammelt der um 1910 erschlossene Bauplatz in ganz ähnlicher Manier wie das futuristische New York Gebäudeelemente aus drei Stilepochen: der Nachkriegsmoderne, der Postmoderne und der (noch unbetitelten) Gegenwart.
Bisweilen mag das Ergebnis banal wirken, doch liefert der Bau auf bestechend unaufgeregte Weise Antworten auf hochaktuelle Fragen, welche die Stadtentwicklung in Zukunft verstärkt beschäftigen werden. Denn was das Gebäude an Protz missen lässt, macht es durch seine Nachhaltigkeit, Sozialverträglichkeit und sein urbanes Bewusstsein wett. Um dies zu erkennen, muss man nur auf die gegenüberliegende Straßenseite blicken.
Hier wurde vor ein paar Jahren ein ähnliches Gebäude aus den Sechzigerjahren abgebrochen – ein Schicksal, das aktuell viele Eckbauten der Nachkriegsmoderne im Westen Berlins ereilt. Die Folgen sind mannigfaltig: Durch den erzwungenen Umzug der Bewohner*innen wird das bestehende Sozialgefüge zerstört. Ferner setzt der Abriss eine erhebliche Menge grauer Emissionen frei, die der Neubau nicht kompensieren kann, egal wie nachhaltig er realisiert und betrieben wird. Außerdem stellt die Zerstörung eines Bauwerks einen Eingriff in das Gedächtnis der Stadt dar, insbesondere wenn es zugunsten eines solitären Neubaus getilgt wird, der wieder nur dem beschränkten Geschmacksurteil seiner Zeit verpflichtet ist. Dieser toxische Kreislauf aus Abriss und Neubau hat in Berlin Tradition. Er ist Ausdruck jenes Traumas, das die originäre Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg hinterlassen hat.
Genau diesem Teufelskreis versucht das eingangs betrachtete Ensemble aus Anbauten und Aufstockungen zu entkommen. Denn indem es eine Vielzahl an Wohnungen aus drei Jahrzenten von unterschiedlicher Größe und Ausstattung in sich vereint, kann es ein breites gesellschaftliches Spektrum beherbergen, wodurch es dem Ideal einer soziokulturell durchmischten Stadt entspricht. Weiterhin ist dieses additive Verfahren, welches dem Bestand neue Wohnungstypen aufpfropft, nachhaltig und ressourcensparend. Doch vor allem besticht das Gebäude durch seinen selbstkritischen Habitus. So setzt es seinen kontingenten Geschmack nicht absolut, sondern ordnet ihn in ein Gesamtbild ein, das die Geschichte des Wohnens im 20. Jahrhundert und darüber hinaus als lebendiges Gedächtnis der Stadt bewahrt.